Wenn ich zurückblicke auf nun drei Jahre seit Verabschiedung des sogen. Beschneidungsparagrafen in Deutschland, lässt es sich so formulieren:
Unbeschnittene Männer reden mit anderen unbeschnittenen Männern darüber, wie schrecklich diese Beschneiderei sei; Dies zu verhindern bestehe darin, unermüdlich für ein sofortiges Beschneidungsverbot zu agitieren. In den Soz. Netzen findet sich unter dem Hashtag „Beschneidung“ entsprechend von blankem Unsinn bis hin zu unangemessenen Vergleichen alles, was männliche unbeschnittene User aus Sorge um ihr anscheinend hoch gefährdetes primäres Geschlechtsorgan umtreibt. So sind Islamhasser, Maskulisten, Antisemiten, Verschwörungstheoretiker, Rechte, Entwicklungsländer-Experten, Linke, Atheisten, Menschenrechtler und einfache Penisinhaber die sich selbstverständlich aus unterschiedlichen Gründen – gemeinsam dafür sorgen, dass ein paar Zentimeter Haut das immerwährende Thema bleibt,- ausschließlich in Deutschland wohlgemerkt. Dazu wird aus obskuren Quellen zitiert, werden Verschwörungstheorien entwickelt und verbreitet, wird fraglos alles verbreitet, was zur eigenen Meinung passt.
Beschneidungen seien genauso schlimm wie das Entfernen der Klitoris, hieß es in gleich mehreren Tweets. Oder sogar noch schlimmer, denn die Vorhaut enthalte rund 20 000 Nervenenden, die Klitoris dagegen bloß 8 000. Schwer traumatisiert bis ans Lebensende seien jedenfalls alle, die die entsetzliche Folter Zirkumzision erleiden mussten, beschrieb ein User das »fürchterliche Leid« derer, denen die Möglichkeit genommen wurde, »Sex zu haben und richtige Männer zu sein«.
Aber auch dort, wo man nicht mit offenkundigem Unfug argumentiert, werden bemerkenswert unkritisch Informationen übernommen, obwohl eigentlich anhand der Aufmachung der entsprechenden Websites und der dort präsentierten Links schnell klar werden müsste, dass der Kampf gegen die Beschneidung in Wirklichkeit einer gegen Minderheiten ist. Und so wird aus wenigen Zentimetern Haut, schnell die Amputation von 73 Meter Nerven und einem Meter Blutgefäßen. Dass diese Zahlen von einer höchst unseriösen Webpage stammen, spielt keine Rolle. Beispiel: Die obigen Angaben stammen aus einer im Jahr 1996 veröffentlichten Untersuchung kanadischer Urologen, die die Vorhäute von 22 Leichen untersucht hatten. Wo es im Original heißt, dass die Vorhäute mindestens 30 Prozent der Penishautfläche ausmachten, wurden auf der deutschen Internetseite aus diesem Wert 50 bis 80 Prozent. Ähnlich verfuhr man auch mit einer zweiten zitierten Untersuchung, bei der es um die Gewinnung superdünner Hautlappen aus Vorhäuten ging, mit denen durch Krebs in der Mundhöhle entstandene Gewebeschäden repariert werden könnten. 46,7 Quadratzentimeter betrug jeweils die durchschnittliche Größe der auseinandergefalteten Vorhäute von acht erwachsenen Toten – auf der deutschen Website werden daraus 65 bis 100 Quadratzentimeter.
Auf den Websites der Beschneidungsgegner findet sich das, was man von diversen Verschwörungstheoretiker-Seiten im Internet hinlänglich kennt: Vorgeblich objektive Pro- und Contra-Faktensammlungen, die gegnerische Argumente mit haltlosen Behauptungen, Verweisen auf unseriöse Quellen und aus dem Zusammenhang gerissenen, falsch übersetzten englischsprachigen Zitaten aus Wissenschaftspublikationen zu entkräften versuchen.
Fast schon obligatorisch: Der übliche Zitier-Pingpong mit Intactivisten, die es Lesern erschweren nach der wirklichen Quelle für Behauptungen zu suchen, fehlt so wenig wie die Klage über geldgierige Mediziner, die mit Beschneidungen reich werden.
Schilderungen von "Problemen" ähneln sich in Sprache und Stil frappant, manchmal bis hin zu den Rechtschreibfehlern, die eigenartigerweise oft denen der Seitenbetreiber entsprechen. Beschrieben werden richtiggehende Horrorszenarien: Penishaut, die regelrecht verhornt ist und dadurch keinerlei Gefühle beim Sex zulässt, dicke Narben, die Partnerinnen beim ersten intimen Kontakt vor Ekel fast kotzen lassen, ständige Schmerzen und Depressionen. Ausgerechnet diese Berichte wimmeln häufig von logischen Fehlern, die nicht dafür sprechen, dass es sich um realistische Schilderungen handelt: Die Beschneidung ist beispielsweise oft gleichzeitig dafür verantwortlich, dass der angeblich Betroffene keinerlei Gefühle und nur unzureichende Orgasmen hat und gleichzeitig seine Ehe durch dauernde Seitensprünge ruinierte, weil er unter einer massiven Sexsucht leide. Oder dass sein Leben dadurch zur Hölle wurde, dass er allein schon durch zufällige Berührungen oder ein ungünstige Reibung der Unterhose zu andauernden ungewollten Orgasmen kam, er aber bislang andererseits Freundin um Freundin verlor, weil den Frauen der durch den beschneidungshalber gefühllosen Penis ewig dauernde Koitus zu anstrengend war.
Noch abstruser wird es, wenn Berichte von Frauen (oder von Männern die sich einen femininen Nick zulegten) ins Spiel kommen. Da hält man die Beschneidung für eine große Verschwörung der sogenannten Feminazis, also der Feministinnen, die im Grunde pausenlos damit beschäftigt sind, Männer zu knechten und ihnen das Leben zur Hölle zu machen.
Auch werden sexuell-sadistisch konnotierte angebliche Erfahrungsberichte von Müttern, Pflegerinnen und Pädagoginnen, die sich vehement für die Zirkumzision aussprechen, oft und gern verbreitet. “Ich habe ein sehr schönes FKK-Bild im Netz von einem sehr schön beschnittenen Buben gefunden, fast so wie meiner, der nur noch ein bis zwei Zentimeter höher beschnitten ist, als der Bube auf dem Bild. Ich stelle euch mal den Link ein, sieht doch auch viel schöner aus als so ein langer Rüssel (...)“, wird beispielsweise eine angebliche österreichische Mutter namens Ines43 zitiert. Egal, ob das Posting nun echt sei oder nicht: Mütterliche Macht werde konsequenterweise auch auf den Penis ausgedehnt, lautet der Kommentar eines Seitenbetreibers zu diesem Text.
Was das alles mit dem Kölner Urteil, in dem es um religiös motivierte Beschneidungen ging, zu tun hat? Nichts. Aber Vorhäute, so klein sie auch sind, scheinen groß genug, um sich als Projek¬tionsfläche für so ziemlich sämtliche Vorurteile, Hassgefühle und diffuse Ängste zu eignen.